Ergonomie: Warum der richtige Platz im Leben eine Frage der Haltung ist

2023-03-23 16:58:24 By : Mr. Jimmy-Vicky Zheng

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Vor diesem Hintergrund erscheint das schlechte Image des Sitzens häufig überzogen. Schon Neugeborene genießen es, wenn sie in einer aufrechten Position gehalten werden und ihre Umwelt entdecken. Das eigenständige Sitzen schärft ihre Aufmerksamkeit. Doch nicht nur in der Kindheit bietet das Sitzen viele Vorteile gegenüber dem Gehen oder Liegen: Es entlastet das Herz, bestimmte Handarbeiten benötigen eine geringere Körperrotation, was wiederum geistige Kapazitäten freisetzt. Studien belegen, dass Menschen mathematische Probleme oder Anagramme im Sitzen besser als im Liegen lösen können, weil das räumliche Gedächtnis vermutlich besser funktioniert.

Sitzen und Wohlbefinden hängen eng zusammen: Wer sitzt, kann gut atmen, ruht physisch aus und befreit sich auch von kognitiver Belastung, was wiederum der Konzentration zugutekommt. So ist es kein Zufall, dass in vielen Kulturen die Bezeichnungen für Sitzen und Sitzmöbel der Silbe „sed“ entstammen, die auch für hemmen, isolieren und besänftigen steht. Doch das ist nur die eine Seite des Sitzens. Viele Forscher verweisen darauf, dass lang andauerndes Sitzen gefährlich ist, denn die einseitige Haltung schadet dem Organismus.

Der zunehmende Bewegungsmangel gilt inzwischen als Hauptursache für alle Zivilisationskrankheiten. Laut Gesundheitsorganisation WHO ist langes Sitzen ein Risikofaktor für Krankheiten und einen vorzeitigen Tod. Das zeigt bereits der JustStand-Index 2018 des Möbelherstellers Ergotron: 85 Prozent der befragten deutschen Angestellten waren der Ansicht, dass es eine Verbindung zwischen übermäßigem Sitzen und vorzeitigem Tod gibt. Knapp die Hälfte befürchtete, durch die Sitzkrankheit gefährdet zu sein. Es wird geschätzt, dass jährlich weltweit etwa 3,2 Millionen Menschen vorzeitig sterben, weil sie sich zu wenig bewegen.

Die häufigste Folge von ständigem Sitzen sind Rückenschmerzen: Ist die Schulter-Nacken-Muskulatur unterfordert, wird sie nicht ausreichend durchblutet und bleibt von der Stoffwechselversorgung und vom Sauerstoffaustausch ausgeschlossen. Sie reagiert mit Verspannung. Die private Deutsche Krankenversicherung (DKV) untersuchte 2015 im DKV Report die gesundheitliche Lebensweise von Menschen in Deutschland. Dazu befragte das Marktforschungsinstitut GfK Personen zu ihrem Gesundheitsverhalten. Zusätzlich wurden Eltern zum gesunden Lebensstil ihrer sechs- bis zwölfjährigen Kinder befragt. Anschließend wertete das Zentrum für Gesundheit der Deutschen Sporthochschule Köln (DSHS) die Ergebnisse aus. Gefragt wurde nach verschiedenen Faktoren: ausreichend Bewegung, ausgewogene Ernährung, moderater Umgang mit Alkohol, Verzicht auf Nikotin, Stressverhalten. Neu bei der Analyse war, dass zusätzlich genau auf das Sitzverhalten eingegangen wurde. In der Eltern-Kind-Befragung wurde nach der Medienverfügbarkeit und Regeln im elterlichen Haushalt gefragt, nach der körperlichen Aktivität während der Schule, nach Sitz- und Schlafenszeiten

• Nur etwa jeder Zweite in Deutschland bringt es auf die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen 150 Minuten moderater Bewegung pro Woche.

• Werktags verbringen wir 450 Minuten im Sitzen - Kinder kopieren das ungesunde Verhalten. 57 Prozent der Teilnehmer hielten den eigenen Zustand für gesund.

• Durchschnittlich sitzen die Befragten 7,5 Stunden am Tag - die meiste Zeit davon vor dem Fernseher. Erst an zweiter Stelle steht die Zeit, die die Teilnehmer sitzend bei der Arbeit verbringen.

• Männer sitzen werktags 45 Minuten länger als Frauen. Am Wochenende verringert sich die Sitzdauer auf sieben Stunden.

• Insbesondere Jüngere (18 bis 29 Jahre) sitzen werktags viel am Computer, dafür in der Freizeit aber weniger.

• 93 Prozent der Kinder schauen an allen Werktagen Fernsehen, 60 Prozent sogar mindestens eine Stunde pro Tag (am Wochenende gucken vier von fünf mehr als eine Stunde fern, einer von fünf sogar mehr als drei Stunden).

• Die körperliche Aktivität nimmt mit steigendem Bildungsgrad ab: Das liegt bei Akademikern hauptsächlich daran, dass sie bei der Arbeit kaum körperlicher Belastung unterliegen.

• In der Freizeit verhält es sich umgekehrt: Akademiker und Menschen mit Abitur machen mehr Sport und bewegen sich deutlich häufiger zu Fuß oder mit dem Fahrrad als Menschen mit Hauptschulabschluss oder ohne Schulabschluss.

• Es erreichte nur etwa einer von zehn alle Benchmarks (14 Prozent der Frauen, 9 Prozent der Männer).

Britische Forscher bestätigen, dass Menschen, die besonders viel sitzen, ein erhöhtes Risiko für Diabetes und Herzkrankheiten haben. Australische Wissenschaftler stellten fest, dass Probanden mit vier und mehr Stunden Sitzdauer häufiger chronische Krankheiten und Krebs entwickelten. Amerikanische Forscher fanden heraus, dass das Leben verlängert werden kann, wenn man seine Sitzdauer auf weniger als drei Stunden reduzieren würde. Alle Studien zeigen, dass für das Sitzen das Gleiche gilt wie für Fett, Zucker und Alkohol: Entscheidend ist immer das richtige Maß.

Die fortschreitende Mobilität und das Sitzen auf Stühlen stehen nach Ansicht des Kulturhistorikers Hajo Eickhoff (Himmelsthron und Schaukelstuhl, 1993) in einem komplementären Zusammenhang: Im Erleben hoher Geschwindigkeit möchte der Sitzende die Unbeweglichkeit des Sitzens kompensieren und die Spannung von Ruhe und Nervosität abschütteln. In einer Vielzahl von Fachbeiträgen hat er nachgewiesen, dass das Sitzen auf Stühlen eine Erfindung städtischer, ziviler Kulturen ist, das sich aus dem Thronen der Könige, einer geweihten Haltung, entwickelt hat. Im 19. Jahrhundert etablierte sich das Sitzen endgültig. In ihm drückte sich der gesteigerte Selbstwert des Bürgers aus. Stuhlsitzen wird, so Eickhoff, zu einem elementaren Werkzeug der Disziplinierung. Das zeigt sich noch heute in der Sprache: So müssen Schüler nachsitzen, wer das Klassenziel nicht erreicht, bleibt sitzen, Liebende werden sitzengelassen und Straftäter sitzen im Gefängnis.

In den unternehmerischen Nachhaltigkeitskontext gehört heute auch die Einrichtung und Ausstattung des Arbeitsumfeldes. Das betrifft nicht nur die Loungebereiche, sondern auch die Arbeitsplätze, die höchsten arbeitsmedizinischen Ansprüchen im Hinblick auf Ergonomie genügen sollten. Was die Aufräum- und Ordnungsexpertin Edith Stork vor vielen Jahren in deutschen Büros zu sehen bekam, erschütterte sie: „Alte ‚Gurken‘ mit wie von Mäusen angefressenen Bezügen. Und solch ein Foltersitz entspricht meist nicht einmal den Mindestanforderungen“, schreibt sie in ihrem Buch „Tatort Büro“ (2004).

Nachdem in den vergangenen Jahren Einrichtungen und Prozesse vorwiegend auf Bequemlichkeit ausgelegt wurden, ist nach Ansicht von Burkhard Remmers ein Umdenken erfordert: „Im gesunden und nachhaltigen Büro ist nicht noch mehr Entlastung, sondern im Gegenteil mehr Bewegung das Gebot für die Konzeption und Planung gesunder Büroarbeitswelten.“ (Nachhaltigkeit in Deutschlands Büros, 2014) Der Autor plädiert dafür, das bisherige Verständnis des betrieblichen Gesundheitsmanagements zu überdenken: So ist es viel naheliegender und wirtschaftlicher, wenn die Bewegung wieder in die Räume und Prozesse zurückgebracht und nicht außerhalb der Arbeitszeit kompensiert wird. Das beginnt bei mehr Bewegung am Schreibtisch.

In vielen Unternehmen wird dies schon umgesetzt und gehört zum Nachhaltigkeitsmanagement, wie das Beispiel des Druckluftspezialisten Mader in Leinfelden-Echterdingen zeigt: Ein wichtiger Meilenstein war für das Unternehmen der Umzug 2018 in das neue Firmengebäude nach Echterdingen. Die rund 5.000 Quadratmeter große Halle wurde nach energetischen Gesichtspunkten saniert und das Bürogebäude entkernt. Anschließend folgte die Erweiterung des Bürogebäudes um einen Neubau und die Revitalisierung des Bestandsgebäudes. Die Fassade an der Ost-, Süd- und Westseite des Bürogebäudes besteht aus 397 Solarmodulen, die mit einer 95 Kilowatt-Peak-Leistung etwa 60 Prozent des Strombedarfs aus Sonnenergie selbst erzeugen. Die Kombination aus einer Luft-Wärme-Pumpe für die Büroräume und einer Pelletsheizung für den Lagerbereich sorgt für optimale Temperaturen. Der Energiebedarf wird zum größten Teil über die Photovoltaikfassade gedeckt. Der Einsatz von LED-Beleuchtung im gesamten Gebäude (in den Büroräumen komplett helligkeitsgesteuert) bringt einen weiteren energetischen Vorteil.

Sie wurden von Anfang an in die Gestaltung einbezogen, konnten Ideen einreichen und bei der Umsetzung unterstützen. Im Rahmen des Umzugs in das neue Firmengebäude konnte jeder Mitarbeiter nach einem Praxistest zwischen zwei angebotenen Bürostühlen und verschiedenen ergonomischen Tastaturen seine Favoriten wählen. Die Beteiligung der Mitarbeitenden bei der Innenraumgestaltung und Arbeitsplatzausstattung hat sich ausgezahlt – eine Befragung Ende 2019 ergab eine hohe Zufriedenheit (4,1 von 5 Punkten) mit der Arbeitsplatzsituation. Mit höhenverstellbaren Tischen und ergonomischen Bürostühlen wurde eine Arbeitsumgebung geschaffen, die sich positiv auf die Gesundheit auswirkt. Außerdem führt der Betriebsarzt regelmäßig Betriebsbegehungen durch und berät zur optimalen Ergonomie am Arbeitsplatz (Quelle: Mader Nachhaltigkeitsbericht) 

Auch bei den Produkten werden ergonomische Aspekte berücksichtigt. So erfüllen die neuen Sicherheits-Entlüftungskupplungen die Anforderungen der Sicherheitsnorm DIN EN ISO 4414 und verhindern zuverlässig das unkontrollierte „Umherpeitschen“ des Schlauchs. Dabei sind sie komfortabel in der Anwendung – einfaches Betätigen des Druckknopfs mit ergonomischer Griffmulde genügt.

Eine schriftliche Mitarbeiterbefragung beim Öko-Versender memo bestätigte ebenfalls den Erfolg der Maßnahme: Der Faktor „Ergonomie“ wurde im Unternehmen durchweg sehr gut benotet. Eigene Einrichtungsexperten analysieren hier regelmäßig alle Arbeitsplätze hinsichtlich ergonomischer Gegebenheiten. Es geht nicht darum, „dass die Mitarbeiter auf den ‚schönsten‘ Stühlen sitzen, sondern auf den für sie jeweils ergonomischsten, die gezielt nach ökologischen und sozialen Kriterien ausgewählt sind.“, sagt Claudia Silber, Leiterin der Unternehmenskommunikation. „Jeder Mitarbeiter erhält von unseren Möbelspezialisten eine Beratung, welcher Stuhl für ihn der jeweils beste hinsichtlich seiner Ergonomie ist. Der Stuhl wird dann auch auf den Mitarbeiter individuell und passend eingestellt. Deshalb sitzt bei uns auf keinen Fall jeder Mitarbeiter auf dem gleichen Stuhl, allerdings alle Mitarbeiter auf Augenhöhe.“ Alle Bürostühle sind zudem mit atmungsaktiven Bezügen versehen und enthalten bis zu 95 % Schurwollanteil. Auch als Versandhändler legt das Unternehmen großen Wert auf nachhaltigen Service. So bietet das Unternehmen beispielsweise im Bereich Büromöbel seinen Gewerbekunden auf Anfrage eine professionelle Ergonomie- und Planungsberatung vor Ort an (Quelle: memo Nachhaltigkeitsbericht).

Allerdings können auch die innovativsten Mechaniken und besten Materialien nur wenig ausrichten, wenn die einzelnen Komponenten am Arbeitsplatz nicht korrekt aufeinander abgestimmt sind: Mensch, Tisch und Stuhl müssen eine Einheit bilden, damit Haltungsschäden, Verspannungen und Rückenschmerzen effektiv vorgebeugt wird. Beispiele wie diese zeigen, dass die harte Währung der Qualität das ist, was Menschen und Unternehmen dafür tun. Und dass es eine Haltung braucht, die sich mit der Funktion und Sinnhaftigkeit der Produkte verbindet: im Sitzen und in Bewegung.

Ulrike Böhm: Die Macht der kleinen Schritte. Wie man als mittelständisches Unternehmen zum Klimaretter wird. In: Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. Hg. von Alexandra Hildebrandt. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2020.

Ulrike Böhm: Ein Mittelständler digitalisiert sich – Von Erfolgen, Hürden und Nachhaltigkeit. In: CSR und Energiewirtschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. Springer-Verlag Berlin Heidelberg. 2. Auflage 2020.

Lieber bewegen als Urlaub: das Wissen von den Folgen des Dauersitzens. In: Das Büro 2 (2018), S. 38.

Julia Gross: Bitte nehmen Sie Platz, ZEIT 15./16.11.2014.

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Gut zu wissen... wie es grüner geht: Die wichtigsten Tipps für ein bewusstes Leben von Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.

Stefanie Kästle und Werner Landhäußer: Druckluft 4.0 goes green: Herausforderungen, Chancen und innovative Lösungen am Beispiel der Mader GmbH & Co. KG. In: CSR und Digitalisierung. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. 2. Auflage. Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2021.

Freie Publizistin und Autorin, Nachhaltigkeitsexpertin, Dr. Alexandra Hildebrandt

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