Gefühls-Analphabeten: Der Mensch verliert das Gefühl für sich selbst

2023-03-23 16:41:28 By : Ms. Suki Chen

Frank Dopheide ist Gründer und Geschäftsführer der Unternehmensberatung human unlimited, die sich auf das Thema „Purpose“ spezialisiert hat. Zuvor war er unter anderem Sprecher der Geschäftsführung der Handelsblatt Media Group und Chairman von GREY Worldwide.

Frank Dopheide ist Gründer und Geschäftsführer der Unternehmensberatung human unlimited, die sich auf das Thema „Purpose“ spezialisiert hat. Zuvor war er unter anderem Sprecher der Geschäftsführung der Handelsblatt Media Group und Chairman von GREY Worldwide.

In der Welt der Wirtschaft hat der kühle Verstand den Platz auf dem Chefsessel eingenommen und behauptet kühn, er säße im Chefbüro und träfe hier die Entscheidungen. In Wahrheit hockt der Verstand in der Presseabteilung ganz hinten am Ende des Flurs. Er verkündet und erklärt wortgewandt das Resultat, ist aber im Moment der Entscheidung meist nicht einmal im selben Raum.

Auch die Topmanagerinnen und Topmanager unseres Landes lassen sich stärker von ihren Gefühlen leiten, als man und frau so denkt. Und hier tun sich nun neue Probleme auf.

Die amerikanische Professorin Brené Brown hat unsere Gefühlswelt vermessen und 87 Emotionen lokalisiert, die uns und unser Leben beleben. Fünf Jahre lang hat sie Menschen begleitet und untersucht, welche Emotionen Menschen eindeutig erkennen, zuordnen und benennen können.

Das Ergebnis war erschreckend. Gerade noch drei Emotionen waren direkt dekodierbar: das Glück, die Trauer und die Wut. Der Mensch ist auf dem Weg zum Gefühls-Analphabeten. Und das hat Konsequenzen.

Denn mit dem Gefühl für uns selbst versiegt auch das Gespür für unser Gegenüber. Kommunikationsstörungen aller Art sind an der Tagesordnung. Der Mensch versteht sich selbst und die Welt nicht mehr. Die Auswirkungen sehen wir täglich auf der Straße, in den sozialen Medien und den Mitarbeiterversammlungen.

In der Geschichte der Menschheit war der Mensch stets das wichtigste Medium des Menschen. Gesichter konnten wir besser lesen als die Tageszeitung. Wurden die Themen zu kompliziert, haben wir uns auf unser Gefühl verlassen. Der Evolution sei Dank.

Nun werden wir zunehmend gefühlsblind. Statt in Romanen versinken wir heute in WhatsApp-Nachrichten. Wo wir früher auch zwischen den Zeilen noch Gefühle herauslesen konnten, hängen wir jetzt ein Emoji ans Ende der Nachricht. Sicher ist sicher. Damit mein Gegenüber versteht, ich habe ja nur Spaß gemacht: „Zwinker, zwinker“. Der Emoji ist unser digitaler Krückstock für fortschreitende Gefühlsdemenz. Die Menge der angehängten Gefühlszeichen wächst. Wo früher eins reichte, müssen es heute fünf sein.

Wenn wir Menschen die Fähigkeit zur gefühlten Differenzierung verlieren, geht eine Menge verloren: das Verstehen, das Verständnis und die Verständigung. Stellen Sie sich vor, auf jede Entscheidung, jede Neuigkeit, jedes Verhalten, das Ihnen vor die Nase kommt, können Sie nur mit drei Symbolen antworten: Sonnenschein, Träne, Totenkopf.

Was bedeutet das im beruflichen Umfeld? Kommunikationsstörungen massiver Art und Stress ohne Ende. Eine wahre Geschichte. Ein Weltmarktführer in der Automobilwelt versucht mit Kraft vor die Transformationswelle zu kommen. Das ist Chefsache. Der CEO ruft sein Team der fünfzig weltweit wichtigsten Managerinnen und Manager zusammen, um in 48 Stunden die PS wieder auf die Straße Richtung Zukunft zu kriegen.

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Zahlreiche Powerpointcharts und Exceltabellen später kochen die Emotionen hoch. Plötzlich und unerwartet steht die Vertrauensfrage im Raum. Wie soll der Chef seinen Topkräften noch vertrauen, wenn sie die Dinge nicht selbst in die Hand nehmen und entscheiden, auch wenn die internen Freigabeprozesse länger dauern? Und im Gegenzug: Wie können die Führungskräfte ihrem Chef vertrauen, wenn man wochenlang nichts hört? Vertrauen ist bekanntlich der Anfang von allem. Kein Vertrauen ist der Anfang vom Ende.

Vertrauen. Ein Gefühl. Tausend Missverständnisse. Jeder der Anwesenden sollte deshalb fünf Assoziationen aufschreiben: Was verstehe ich unter Vertrauen? Die Mutigste stand auf und trug ihre fünf Worte vor. Keiner (!) der anderen Teilnehmer hatte dieselben fünf Worte. Genau genommen gab es nicht eine einzige Überschneidung. Alle redeten über Vertrauen. Jeder verstand und fühlte etwas anderes darunter.

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Am Ende erkannten sie, es ging gar nicht um Vertrauen, sondern um die Verlässlichkeit. Ein anderes Thema. Ein anderes Gefühl. Eine andere Diskussion. Und viel einfacher zu lösen.

Testen Sie diese Übung gleich nachher im Teamcall.

Beginnen Sie mit Ihren Unternehmenswerten. Werte sind in Stein gemeißelt, aber selten zum Leben erweckt. Schicken Sie die Werte in die Runde und erbitten sich fünf Assoziationen von jedem – dauert nur zwei Minuten. Sie werden Ihren Augen und Ohren nicht trauen. Und Sie werden erkennen, Sie haben ein kommunikatives Problem. Achten Sie dabei auf Ihr Gefühl – es lohnt sich.

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